HT 2021: Was treibt die Geschichte im 20. Jahrhundert? Kausalität und Kontingenz in jüngeren Forschungsdebatten

HT 2021: Was treibt die Geschichte im 20. Jahrhundert? Kausalität und Kontingenz in jüngeren Forschungsdebatten

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Roman Birke, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Debatten über die Ursachen historischen Wandels und die Aufgabe der Geschichte als Wissenschaft sind nicht neu. Wie der Verweis der Sektionsleiterinnen SONJA LEVSEN (Freiburg) und FRANKA MAUBACH (Jena) auf das Debattenforum der American Historical Review aus dem Jahr 2015 zeigt, sind sie natürlich auch nicht auf den deutschsprachigen Raum begrenzt. Dennoch traf das Panel einen Nerv in der aktuellen deutschen Historiographie, das zeigte alleine die Teilnehmerzahl, die konstant bei etwa 250 lag. Dass eine Fachsektion ein solch bemerkenswertes Interesse erzeugt, kann nicht zuletzt durch die Zuspitzung mancher deutscher Debatten in den vergangenen Jahren erklärt werden. Jüngste Kontroversen über die Bedeutung der Hohenzollern für die Etablierung des Nationalsozialismus, die Geschichte der Demokratie in Deutschland oder die neuerliche Debatte über die Beziehung zwischen Kolonialismus und NS-Verbrechen verweisen trotz einer weitgehenden Abkehr von historischer Ursachenforschung auf Fragen nach kausalen Zusammenhängen. Dieses neue Interesse verknüpft sich mit älteren, aber immer wieder aufkommenden Debatten über die Schuld am Ersten Weltkrieg (zuletzt 2014 wieder prominent), über die Rolle der Weimarer Republik oder den deutschen „Sonderweg“.

Diese Diskussionen finden an der Schnittstelle von Historiographie und Gegenwartspolitik statt. Sie berühren Erinnerungspolitik, Restitutionspolitik, den gegenwärtigen Umgang mit deutscher Gewalt- und Vernichtungsgeschichte oder die Rolle des deutschen Nationalstaates im Europa der Gegenwart. Insofern war auch die Frage der Sektionsleiterinnen ganz plausibel, was die Debatten über die Ursachen der Geschichte eigentlich treibt, ob es binnenwissenschaftliche Positionierungen der Historiker:innen oder deren gesellschaftspolitische Positionen sind. Einen Anspruch auf Beantwortung dieser Frage oder eine Intervention in die aktuellen historiographischen Debatten hatte die Sektion nicht. Vielmehr zielte sie darauf, theoretische Fragen nach Kausalität und Kontingenz anhand von Inputs über konkrete historiographische Forschungsfelder zu Demokratie (Ute Daniel (Braunschweig)), Weimar (Benjamin Ziemann (Sheffield)), Terrorismus (Petra Terhoeven (Göttingen)) und einem Blick auf implizite und explizite Kausalitätsannahmen in der Zeitgeschichte (Martin H. Geyer (München)) zu behandeln.

Einleitend stellten Maubach und Levsen selbst vier zentrale Thesen zur Diskussion. So sei es erstens zwar zu einer programmatischen Abgrenzung von Ursachenforschung gekommen, die empirische Arbeit von Historiker:innen unterstelle jedoch allein aufgrund der Anordnung von Ereignissen im Zeitablauf weiterhin Kausalzusammenhänge. Zweitens schlugen die Sektionsleiterinnen vor, dass Forschungsarbeiten trotz der Offenheit von Geschichte eine Hierarchisierung der oft vielfältigen Ursachen wagen sollten. Drittens könnten Perspektivenwechsel und eine Veränderung von eingeschliffenen Zäsuren zu neuen Kausalitätsannahmen führen. Und viertens forderten Maubach und Levsen eine Diskussion über die Folgen des transnationalen Turns für die Kausalannahmen der Historiographie. Die komplexen Zusammenhänge und großen Quellenkorpora transnationaler Historiographie hätten dazu geführt, kurze Untersuchungszeiträume und die agency einzelner Akteur:innen gegenüber dem Fokus auf Veränderungen in einer langen Zeitperspektive zu privilegieren.

Die daran anschließenden Fachvorträge eröffnete UTE DANIEL mit einem Beitrag über Demokratiegeschichte. Daniel argumentierte, dass synchrone Erklärungen die Demokratiegeschichte in den vergangenen zwei Jahrzehnten prägten. An die Stelle von Narrativen über die lange Geschichte einer demokratischen Gegenwart wurde in der Forschung die jeweilige zeitliche und regionale Kontextgebundenheit des Demokratiebegriffs in den Vordergrund gestellt. Demokratie konnte etwa die breite Teilnahme an Unabhängigkeitskriegen (Spanien), die Befreiung von Diktatur und Besatzung (Niederlande), oder Reformen und parlamentarische Monarchie (Dänemark) bedeuten. Diese Beispiele dienten Daniel zur Illustration eines methodischen Problems der Geschichtswissenschaft. Sie argumentierte, dass Demokratie sowohl synchron als auch diachron erklärungsbedürftig und erklärungsfähig sei. Beide Ebenen seien aber nur schwer miteinander in Beziehung zu setzen, da die Suche nach einer Vorgeschichte demokratischer Gegenwart im Widerspruch dazu stünde, wie sich die jeweiligen Zeitgenoss:innen deren Zukunft (unsere Gegenwart) vorstellten und welche Bedeutungswandel der Begriff von Demokratie selbst durchlief. Daniel argumentierte, dass synchrone und diachrone Zugänge im Widerspruch zueinander stünden, und forderte den Beginn einer Unterhaltung über die Unschärferelationen der Disziplin.

BENJAMIN ZIEMANN fokussierte in seinem Beitrag die Weimarforschung und setzte sich am Beispiel des Januar 1933 konzeptionell mit dem Begriff des Zufalls auseinander. Angesichts jüngerer Forschungsergebnisse – wie etwa über die Rolle Hugenbergs – argumentierte Ziemann, dass es zwar Zufälle gegeben habe, daraus aber nicht gefolgert werden kann, Hitler sei aus Zufall Reichskanzler geworden. Vielmehr kenne die Forschung über das Ende der Weimarer Republik fast zu viele Ursachen für die Machtübernahme Hitlers. Im Anschluss wandte sich Ziemann der Ursachenforschung in Bezug auf die Sonderwegthese zu. Er zeigte anhand agrarischer prä-faschistischer Mobilisierungen und der Formierung der völkischen Ideologie, dass lange Kausalitätslinien keine adäquaten Erklärungsansätze bieten können. Aufbauend auf diesen Beispielen definierte Ziemann kontingente Ereignisse schließlich als nicht unausweichliche, aber dennoch potentiell vorhandene und „schließlich ergriffene und vollzogene Möglichkeiten“. Zusätzlich stellte Ziemann eine Verschiebung in der Forschung zur Weimarer Republik fest: weg von langfristig-strukturellen Kausalfaktoren, hin zu einer Kombination von kurzfristigen Entscheidungsdynamiken und Faktoren der Weimarer Politik selbst.

PETRA TERHOEVEN argumentierte, dass das Feld historischer Terrorismusforschung gut geeignet sei, um Fragen nach Kausalität und Kontingenz zu stellen. Der Charakter des Terrorismus als nicht vorhersehbares Ereignis lasse Gesellschaften und unmittelbar Betroffene mit der Frage nach dem Warum zurück. Die historische Forschung zu Terrorismus habe diese oft eindimensionale Ursachensuche zwar verkompliziert, sich aber der Frage nach dem Warum nicht entzogen. Mit Blick auf die Forschung zu Terrorismus seit den 1970er-Jahren verstand Terhoeven Terrorismus als „Eskalationsprodukt“ eines vielfältigen Systems wechselseitiger Reize und Reaktionen auf einer Makro- (Gesellschaft/Kultur), Meso- (Organisationen/Netzwerke) und Mikroebene (Individuen). Aufgrund dieses Kommunikationssystems und der Subjektivität beteiligter Akteur:innen sei Kontingenz integraler Bestandteil dieses Forschungsfeldes. Um sich Fragen nach den Ursachen des Terrorismus anzunähern, argumentierte Terhoeven für einen Fokus auf persönliche Erfahrungen, habituelle Faktoren und emotionale Regime auf individueller Ebene. Durch den kommunikationstheoretischen Ansatz der jüngeren Forschung kämen neben Ursachen auch Folgen von terroristischen Handlungen in den Blick, etwa jene für Gesellschaften, aber auch für die Opfer der Gewalt und deren Hinterbliebene.

Anschließend an die jeweils spezifischen Kausalitätsannahmen in den benannten Forschungsfeldern von Demokratie, Weimar und Terrorismus stellte MARTIN H. GEYER einige allgemeine Überlegungen über die Zeitgeschichtsforschung an. In zeitgeschichtlichen Arbeiten habe es noch nie so viele Bezüge auf die Gegenwart gegeben wie heute (etwa Frank Böschs Zeitenwende 1979, Philipp Sarasins 1977 oder Andreas Rödders 21.0). Die in diesen und anderen Untersuchungen der neueren Zeitgeschichte oft festgestellte „Kontingenz der Moderne“ trage eine ganze Reihe von impliziten Annahmen über Kausalität und historische Zusammenhänge in sich. Besonders bemerkenswert fand Geyer, dass sich zentrale Annahmen über die Bedeutung der „Schlüsseljahre“ der 1970er-Jahre als Anfänge der Gegenwart in der deutschen Historiographie verfestigt hätten, 1989/90 hingegen nicht zum Fluchtpunkt historischer Narrationen wurde. Geyer bemerkte, dass das Festlegen bestimmter Zäsuren in der Zeitgeschichte weitreichende Aussagen über Kausalität impliziere und die gegenwärtige Betonung der 1970er-Jahre zwar in vielerlei Hinsicht überzeugend sei, mit Blick auf Annahmen über Ursachen aber wohl zu eindeutig ausfiele. Schließlich betonte Geyer, dass man auch diskutieren müsse, welche Auswirkungen die Sozialwissenschaften mit der Prägung von Begriffen (Singularitäten, „post-“, Neoliberalismus, Postkolonialismus, etc.) auf historische Kausalannahmen und gängige Interpretationen des 20. Jahrhunderts hatten und ob sich die Geschichtswissenschaft zu sehr von diesen Begriffen habe leiten lassen.

Die im Anschluss an die Vorträge geführte Debatte verwies auf einige weiterführende Fragestellungen. Maubach stellte einleitend die Frage, ob sich ein Rückzug aus kausalem Erklären wirklich erkennen lasse. Daniel sah keine Abkehr von der Lust am Erklären, sondern stellte fest, dass die Art der Erklärung anders geworden sei: Statt großer Narrative suche man Ursachen auf synchroner Ebene, wobei die darin steckenden Kausalitätsannahmen expliziter gemacht werden müssten. Terhoeven stimmte zu und ergänzte, dass der Trend weg von Kausalitätsannahmen sich für die deutsche Geschichte verbiete, auch weil Brüche, besonders der Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus, erklärungsbedürftig blieben. CHRISTINA VON HODENBERG (London) fragte nach dem methodischen Verhältnis zu den empirischen Sozialwissenschaften. Im Gegensatz zu deren komplexen Regressionsanalysen gebe es in historischen Publikationen immer weniger grafische Darstellungen. Studierende würden kaum dazu ausgebildet, sozialwissenschaftliche Methoden zu verstehen, zu rezipieren oder auch mit den Daten der empirischen Sozialwissenschaften weiterzuarbeiten. Geyer stimmte zu und verwies besonders auf die Volkswirtschaften oder die populären Bücher von Yuval Noah Harari, in denen ein Anspruch auf Kausalität in sehr langen Zeitdauern formuliert werde. Solche quantifizierenden Forschungen würden auf die Historiographie zukommen, während die Geschichtswissenschaft weiterhin die „Wie“-Fragen stärker in den Blick nehmen solle. CLAUDIA GATZKA (Freiburg) argumentierte, dass sich die Kulturgeschichte keinen großen Gefallen damit getan habe, „Wie“-Fragen von „Warum“-Fragen abzugrenzen, da auch in ersteren Kausalitätsannahmen enthalten seien. Obwohl eine Abgrenzung von Teleologien berechtigt gewesen sei, sollte die Frage nach Kausalität nicht abgeschmettert werden. Gatzka fragte, ob Kausalität und Kontingenz wirklich in Opposition zueinander stünden, und wie sich die Konzepte von Korrelation und Koinzidenz dazu verhielten. Levsen antwortete, dass die beiden Begriffe nicht als Gegensatzpaar, sondern als eng miteinander verflochten zu verstehen seien. Maubach ergänzte, dass das Begriffspaar die dominante Debatte aufgreifen sollte, in denen diese Begriffe programmatisch gegeneinander gestellt werden. Die Diskussion über die empirischen Forschungsfelder zeige aber, dass sich dieser klare Gegensatz nicht aufrechterhalten ließe. Terhoeven argumentierte, dass die Begriffe von Koinzidenz und Korrelation produktiv gemacht werden könnten, da sie auf transnationale Verflechtungen zielten. Auf eine im Chat gestellte Frage, ob es mehr Sinn mache, von Handlungsspielräumen statt von Kontingenz zu sprechen, antwortete Daniel, dass die Begriffe Handlungsmöglichkeiten oder agency nur andere Bezeichnungen von Kontingenz seien. Der Zufall sollte hingegen aus dem Vokabular gestrichen werden, denn Kontingenz unterstelle im Gegensatz zum Zufallsbegriff einen Zusammenhang. JOHANNA MEYER-LENZ (HAMBURG) widersprach Daniel, da historische Gruppen mit Ereignissen konfrontiert werden können, die aus deren Sicht Zufälle sind. Man müsse deshalb überlegen, wie man den Kontingenzbegriff hin zu Multidimensionalität öffnen könne. Sie verwies etwa auf Ansätze des symbolischen Interaktionismus in der Soziologie, der das Fach aus einer Engführung von Kausalität herausbringen könne. Geyer verwies daran anschließend auf historische Bücher (etwa Dirk Moses‘ Problems of Genocide), die Zäsuren hinterfragen und ein Phänomen – etwa Gewalt – synchron zusammendenken. Ziemann rief dazu auf, die Kritik an Meisternarrativen und Kausalannahmen auseinanderzuhalten. An den Meisternarrativen seien weniger die Kausalannahmen problematisch, sondern dass Narrative auf häufig groteske Art und Weise schief waren (etwa das Narrativ der „Tragödie“ für den Nationalsozialismus).

Abschließend bedankte sich Levsen für die intensive und spannende Diskussion, die gezeigt habe, wie sich das Nachdenken über Kausalannahmen für eine Geschichte des 20. Jahrhunderts vollziehen kann. Einen Konsens stellte sie darüber fest, dass Kontingenz und Kausalität nicht im Gegensatz zueinander verstanden werden sollen. Maubach bedankte sich ebenfalls bei Vortragenden und Zuhörenden. Die Diskussion habe auch die Frage unterstrichen, wie man Komplexität in der Geschichte darstellen und an eine zunehmend polarisierte Öffentlichkeit vermitteln kann.

Das Panel hat wichtige Zugänge eröffnet, auch weil es die theoretischen Debatten an empirisch konkrete Forschungsfelder gebunden hat ohne sich zu sehr von aktuellen Kontroversen vereinnahmen zu lassen. Die anfänglich überzeugend formulierten Thesen der Sektionsleiterinnen eignen sich gleichsam zu weiterführenden Diskussion auch in diesen umkämpften Feldern. Insgesamt hat das Panel trotz seiner Ergebnisoffenheit die Geschichtswissenschaft überzeugend dazu aufgefordert, das Verhältnis zwischen empirischen Befunden und Erklärungsanspruch genauer zu bestimmen und Kausalitätsannahmen in Forschungsarbeiten expliziter zu machen. Weiterführende Gespräche könnten dabei die Anregungen aus der Diskussion aufgreifen, sowohl die Begriffe von Kausalität und Kontingenz zu schärfen, als auch multidisziplinäre Perspektiven stärker in den Blick zu nehmen. Denn komplementäre und konkurrierende Kausalitätsansprüche kommen nicht nur aus den Sozialwissenschaften, sondern werden seit mehreren Jahren implizit und explizit etwa auch von den digitalen Geisteswissenschaften formuliert.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Sonja Levsen (Freiburg), Franka Maubach (Jena)

Ute Daniel (Braunschweig): Das schwierige Verhältnis von Kontingenz und diachroner Erklärung: Demokratiegeschichte als Beispiel

Benjamin Ziemann (Sheffield): War der 30. Januar 1933 ein Zufall?

Petra Terhoeven (Göttingen): Reiz – Reaktion? Über Zufall, Eigendynamik und hinreichende Gründe in der historischen Terrorismusforschung

Martin H. Geyer (München): Über das „Warum“ und das „Wie“ in historischen Beschreibungen der Gegenwart – Zeitreise in das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts


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